Zu Beginn des Zweiten Weltrkriegs lebten vermutlich ein bis zwei Millionen Angehörige der Sinti und Roma in Europa. Zwar gibt es bis heute keinen wissenschaftlichen Konsens darüber, wie viele Todesopfer die rassistisch motivierte Verfolgung ihrer Volksgruppe im Nationalsozialismus forderte, seriöse Schätzungen liegen jedoch zwischen 200.000 bis 500.000 Menschen. Beispiellos ist die nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochene und teilweise bis heute andauernde Stigmatisierung von Sinti und Roma.

Maria „Mariechen“ Franz

Maria Franz, die Mariechen genannt wurde, kam 1927 unweit von Aurich zur Welt. Ihrer gleichnamigen Mutter wurde nach deren Angabe nach einem Krankenhausaufenthalt des damals dreimonatigen Mädchens erklärt, das Kind sei verstorben. Nachdem sie in ein Bremer Kinderheim gebracht wurde, kam sie kurze Zeit später in die Obhut einer Pflegefamilie aus Heiligenrode, das heute zu Stuhr gehört. Innerhalb der Familie wuchs sie die ersten 14 Jahre ihres Lebens weitestgehend behütet auf, im alltäglichen Leben wurde sie aber bereits früh zum Opfer von Diskriminierung, da die Eltern Gleichaltriger ihren Kindern den Umgang mit Mariechen aus rassistischen Gründen verboten.

Die anstehende Konfirmation wurde ihr von der örtlichen Kirchengemeinde verweigert – stattdessen organisierte ihre Familie eine private Feier, zu der auch einige Nachbarinnen und Nachbarn Geldgeschenke beisteuerten, so dass ihre Pflegemutter mit Mariechen neue Kleidung einkaufen konnte. Nur kurze Zeit später verließ sie die Schule, um 14-jährig in einem Kindergarten Hilfsarbeiten zu leisten. Ihre dortige Vorgesetzte meldete sie wenig später bei den Behörden, womit ihr staatlich gelenkter Leidensweg seinen Anfang nahm.

Der sich anschließende zwangsweise Aufenthalt in der Bremer Nervenklinik, der medizinisch unbegründet war, ging mit einem Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht einher, das 1943 die Zwangssterilisation des Kindes anordnete. Nachdem der Eingriff im November des Jahres erfolgt war, wurde sie im März 1944 nach Hamburg gebracht und anschließend nach Auschwitz deportiert. Anders, als ihre Geschwister und ihre Mutter, die Anfang der 1940er Jahre erfahren hatte, das ihr Kind noch lebte und ohne Erfolg einforderte, dass die Familie wieder zusammengeführt werde, ermordete man sie nicht in den dortigen Gaskammern. Stattdessen wurde sie ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie am 25. September 1944, nur vier Tage nach ihrem 17. Geburtstag, starb.

Maria Franz, um 1941 (Quelle: Ursula Lengenfelder, gedruckt in: Engelbracht, Gerda: Der tödliche Schatten der Psychatrie: Die Bremen Nervenklinik 1933 bis 1945, Bremen 2002, S. 51)

Der Leidensweg der Sinti und Roma aus Deutschland, von denen nicht einmal 5.000 den Holocaust überlebten, setzte sich nach Ende des Krieges fort. Die Bemühungen um Wiedergutmachung scheiterten oft und im Jahr 1956 stellte der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil fest, dass die nationalsozialistische Verfolgung zumindest bis 1943 legitim gewesen und damit nicht zu entschädigen sei. Die Worte der Urteilsbegründung schließen nahtlos an die haltlosen Stereotypen über Sinti und Roma an, die schon den Rassismus vor 1945 prägten: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ Tatsächlich waren mehr als 80 Prozent der damals in Karlsruhe aktiven Richter schon im faschistischen Deutschland als Juristen aktiv gewesen.

Es waren aber nicht nur höchste Instanzen, die Sinti und Roma in Deutschland weiterhin ausgrenzten und entrechteten. Oft wurden sie von Gemeinden gezwungen, weit abseits der übrigen Bevölkerung zu leben. In Bremen wurden in Wagen lebende Angehörige der Volksgruppe ab 1948 gezwungen, auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Riespott zu siedeln. Später wurden sie vertrieben, um dem Ausbau der örtlichen Industrie Platz zu machen. Stattdessen mussten sie auf einer Mülldeponie in Bremen-Woltmershausen leben.