Mehr als fünf Millionen Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkrieges in deutsche Kriegsgefangenschaft, weit über 90 Prozent davon stammten aus der Sowjetunion. Formal durch die Genfer Konventionen und andere zwischenstaatliche Vereinbarungen geschützt, wurden insbesondere sowjetische Soldaten zu Opfern von Kriegsverbrechen. Während die Todeszahlen Westalliierter in deutscher Kriegsgefangenschaft im niedrigen einstelligen Prozentbereich lagen, wurden deutlich mehr als die Hälfte der Sowjetbürger ermordet – das entspricht etwa 3,3 Millionen Menschen. Aber auch westalliierte Kriegsgefangene litten in großer Zahl Hunger und Kälte, wurden bestohlen, erniedrigt und geschlagen.


Jan-Hendrik Nauwelaerts

Jan-Hendrik Nauwelaerts wurde 1890 in Niel in der Region Flandern in Belgien geboren. Er erlebte er als Achtjähriger die offizielle Anerkennung des Niederländischen als belgische Amtssprache und in der Folgezeit die Ausweitung flämischer Rechte. 1910 als Soldat verpflichtet, kämpfte er nach der belgischen Mobilmachung am 1. August 1914 bis zur Demobilisierung seiner Einheit am 31. Januar 1919 im Ersten Weltkrieg, zunächst als Teil der Kavallerie, später einem Artillerieregiment zugehörig, wobei er mehrfach mit militärischen Ehren dekoriert wurde.

Mit einer massiven Mobilmachung, die in Europa ihresgleichen suchte, versuchte sich Belgien Ende der 1930er Jahren einem drohenden Angriff der Wehrmacht entgegenzustellen. Daher wurde auch der knapp 50-jährige Nauwelaerts erneut einberufen und nach dem deutschen Überfall in die Nähe der französischen Stadt Dünkirchen verlegt. Nach nur 18 Tagen mussten die belgischen Streitkräfte kapitulieren und offiziell rund 800.000 Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft gehen. Tatsächlich traten nur etwa 225.000 Männer die Kriegsgefangenenschaft an, die große Mehrheit der belgischen Soldaten flüchtete oder ging nach Niederlegung der Waffen schlicht nach Hause, was von den deutschen Behörden nie systematisch geahndet wurde. Diese Gelegenheit bot sich Nauwelaerts nicht, da er und seine Einheit im Rahmen der Schlacht von Dünkirchen von der Wehrmacht umzingelt wurden.

Gemeinsam mit 50 bis 70 anderen belgischen Soldaten wurde Nauwelaerts anschließend in einem Güterwagen ins Deutsche Reich deportiert, wobei den Kriegsgefangenen kaum Nahrung und Trinkwasser gereicht wurde. Vom Bahnhof in Bremervörde aus mussten die geschwächten Männer zehn Kilometer zu Fuß ins Stammlager X B in Sandbostel laufen. Dort wurden ihnen gegen Ausstellung einer Quittung Wertsachen abgenommen – offiziell nur für den Zeitraum der Kriegsgefangenschaft, in der Realität sah jedoch kaum ein Soldat seinen Besitz wieder. Dabei handelte es sich um einen Verstoß gegen die Genfer Konvention. Die nationalsozialistische Gewalt war nicht nur systematisch, sondern auch geprägt von Willkür. So liegt aus dem Lager in Sandbostel der Bericht über einen belgischen Soldaten vor, der zeitgleich mit Nauwelaerts festgehalten und im Juni 1940 erschossen wurde, weil er sich ohne Erlaubnis in der Nähe der Küchenbaracken aufhielt. In den deutschen Unterlagen zum Fall ist als Todesursache lapidar „Auf der Flucht erschossen“ angegeben.

Von Sandbostel aus wurde Nauwelaerts ins Stammlager X C Nienburg verlegt, das in erster Linie dazu diente, Kriegsgefangene in der Region weiterzuverteilen, wo sie in der Regel in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Nauwelaerts wurde nach Mellinghausen bei Sulingen gebracht, wo im Jahr 2016 auf einem Acker seine Erkennungsmarke entdeckt wurde. Nach etwa acht Monaten erfolgte seine Repatriierung, wobei nicht nur er, sondern die große Mehrheit der niederländischsprachigen Belgier vergleichsweise rasch aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden, da ihnen im Nationalsozialismus eine „germanische Abstammung“ zugeschrieben wurde.

Anders erging es den französischsprachigen Belgiern, die für die Deutschen „fremdvölkischer Abstammung“ waren und in der Regel bis Kriegsende im Deutschen Reich bleiben mussten. Damit war von deutscher Seite der Versuch verbunden, einen weiteren Keil in den flämisch-wallonischen Konflikt zu treiben und mit der damit einhergehenden Manipulation der Stimmung in der belgischen Bevölkerung die Grundlage für die mittelfristig geplante Annexion Flanderns zu schaffen. Die deutsche Niederlage im Mai 1945 vereitelte diese Pläne.

Sogenannte Personalkarte I, mit der Nauwelaerts als Kriegsgefangener erfasst wurde (Quelle: Belgian Defence – Centre for Historical Documentation).
Erkennungsmarke von Jan-Hendrik Nauwelaerts im Fundzustand (Quelle: Kevin Kyburz, Kreismuseum Syke)
Erste Seite der Militärakte von Jan-Hendrik Nauwelaerts (Quelle: Belgian Defence – Centre for Historical Documentation).

Jan-Hendrik Nauwelaerts schied 1946 aus der Armee aus. Im Vergleich mit anderen Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft scheint Nauwelaerts Leidensweg weniger weitreichend. In der Realität ließen ihn die traumatischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen als gebrochenen Mann zurück. Raubte ihm der Erste Weltkrieg in jungen Jahren die Möglichkeit, ein Leben in Friedenszeiten zu führen, stahlen ihm der deutsche Angriffskrieg und die sich anschließende Gefangenschaft die Chance auf unbeschwerte letzte Lebensjahrzehnte.